INGRID SCHERR
New Classics From Another World

Auf den ersten Blick sehen wir klassische Steinbildhauerei, ganz traditionell auf Sockeln präsentiert: organische Formen, anthropomorphe Fragmente, archaische Objekte. Es könnte sich um kostbare Ausgrabungsstücke handeln, um Zeugnisse ferner Zivilisationen, die an den Ursprung und die Vergänglichkeit der Menschheit erinnern. Tatsächlich aber sind es frisch behauene Normsteine aus Gasbeton – künstlich aufgeblähter Staub also, der universelle Baustoff des 20. Jahrhunderts. Ingrid Scherr nutzt dieses neuzeitliche Material nicht nur als Ausgangspunkt ihrer plastischen Studien, sie arbeitet die Geschichte des Kunststeins in ihre Werke mit ein. Was dem klassischen Bildhauer die Steinbrüche in Carrara, sind für Scherr die Baustellen von Abbruchhäusern. Hier findet sie ihr Rohmaterial. Und wie ein Marmorbildhauer die Äderung des Steins für seine Formgebung nutzt, lässt sich die Künstlerin bei ihrer intuitiven Vorgehensweise von den Gebrauchsspuren der recycelten Betonsteins inspirieren.

„Verschiedenartige Oberflächenbehandlung und Strukturen sollen den Blick des Betrachters auf eine Reise in ein labyrinthisches Unterbewusstsein nehmen“, sagt Ingrid Scherr über ihre künstlerische Intention. „Vandalismus- und Verrottungstechniken transformieren die ursprünglich genormten Betonsteine in abstrahierte Mischwesen.“ Formal bewegt sich die Künstlerin mit ihren expressiven Plastiken zwischen gestischer Abstraktion und postmodernem Primitivismus – alles gewürzt mit einer Prise augenzwinkernder Lässigkeit, die auch die Lust am Spiel mit der traditionellen Künstlerrolle als Schöpfer von einzigartigen, magischen Objekten offenbart.

Ingrid Scherr, geboren 1962 in München, arbeitet als Malerin, Bildhauerin und Multimedia-Künstlerin in Osnabrück und Berlin. Sie hat an der HFBK in Hamburg studiert und ist Gründungsmitglied der Künstlergruppe WUUUL. „New Classics From Another World“ ist ihre erste Einzelausstellung in der Galerie.