NOTHING SO RARE
Zum fotografischen Werk von Walter Vorjohann
Von Ute Thon

Ein Luftmatratze, bleigrau und übermannsgroß, am Kopfende ein Ventil, sechs röhrenförmige Luftkammern, fast wie das Rückenteil eines Daunenmantels, Nutzungsspuren auf der gerippten Oberfläche, rotbraun verfärbte Gumminähte, links oben der verblichene Aufdruck MIL-M-10747K INFLATED PRODUCTS CO INC. All das erkennt man gestochen scharf auf der zwei Meter hohen Fotografie von Walter Vorjohann. Und fragt sich unwillkürlich: Warum? Warum gerade dieses Ding? Warum so groß? Warum so nüchtern? Warum so kommentarlos?


Luftmatraze
US, „1968“, 2008,125 x 200cm


Der Frankfurter Fotograf seziert mit seiner Kamera profane Alltagsobjekte, indem er sie aus ihrem Kontext löst und im Großformat mit extremer Schärfentiefe vor weißem Hintergrund inszeniert wie anatomische Präparate. Stromkabel, Nylonstrumpfhosen, Baggerschaufeln. Die frontale Perspektive und der neutrale Hintergrund verleihen den Gegenständen etwas Erhabenes. Sie werden zu Skulpturen, deren physische Präsenz sich in der detailgenauen Oberflächenstruktur ebenso bemerkbar macht wie in den gut sichtbaren Abnutzungsspuren. Trotz der klinischen Präsentation bleiben die Gegenstände undurchdringlich und geheimnisvoll – auch weil es keine erklärenden Titel gibt. Die abgebildeten Objekte stehen für sich, man muss sich ihnen über ihre rein physische Ausstrahlung nähern, der dinglichen Aura, die diesen Objekten durch ihre Nutzung und Funktion eingeschrieben ist.

Wenn man die Schwingungen erfasst hat, hält der Künstler weitere Hinweise zur Interpretation bereit. Das Luftmatratzen-Foto etwa heißt „US, 1968“. Aus dem Titel und dem aufgedruckten Schriftzug auf der Matratze lässt sich schließen, dass es sich um ein Produkt aus den USA handelt, die Jahreszahl ist ein Verweis auf die Zeit des Gebrauchs, die freudlos-graue Farbe schließlich verrät den Einsatzort. Diese Luftmatratze diente nicht zum Planschen bei Pool-Parties in Miami, sie gehörte zur Standard-Ausstattung der US-Soldaten, die im Vietnam-Krieg kämpften. Auf ihr schliefen, schwitzten, zitterten und starben Menschen. Und verkehrten den flotten Werbeslogan der Pneumatic Mattress & Cushion Company, Amerikas Erfindern der Luftmatratze, NOTHING SO RARE AS RESTING ON AIR, ins brutale Gegenteil. Die Luftmatratze, eigentlich Inbegriff für Leichtigkeit und Spaß, wird plötzlich zum Symbol eines mörderischen Krieges, das luftige Bett wird zur Bahre.

Solche Interpretationen lässt Walter Vorjohann zu, aufdrängen möchte er sie den Betrachtern jedoch nicht. So kann man in seinen Poller-Bildern, Fotos von Barrieren aus Beton, wie man sie von Autobahnen und verkehrsberuhigten Innenstädten kennt, eine Typologie institutioneller Absperrtechnik erkennen oder einfach nur ihre brutalistische Schönheit bewundern. Man kann diese Fotoserie aber auch als frostigen Kommentar auf den prekären Zustand unserer westlichen Demokratie lesen, die sich mit Betonbarrieren vor islamistischem Terror zu schützen versucht. Es spricht für die Qualität der Bilder, dass sie solche Bedeutungsebenen in sich tragen, ohne damit hausieren zu gehen. Vorjohann, der sich auch als Architekturfotograf einen Namen gemacht hat, sieht seine Bilder in erster Linie als fotografische Skulpturen – temporäre Arrangements, die die architektonischen und skulpturalen Qualitäten der dargestellten Dinge in den Mittelpunkt rücken sollen. In dieser Hinsicht erinnert Vorjohanns Herangehensweise an Karl Blossfeldt (1865-1932), der in den 1920er Jahren streng-sachliche Schwarzweiß-Fotografien von Pflanzen anfertigte, um deren abstrakt-ornamenthaftes Formenvokabular zu dokumentieren. Obwohl Blossfeldt seine Fotografien nicht als eigenständige Kunst begriff sondern als Unterrichtsmaterial für angehende Bildhauer, gelten seine Pflanzenserien heute als Klassiker der neu-sachlichen Fotografie und sein Buch Urformen der Kunst (1928) ist ein bedeutendes Theoriewerk.

Auch Walter Vorjohann macht in seinen Fotografien Urformen sichtbar, nicht aus der Natur, sondern aus der industriellen Produktion. Wie Blossfeldt sensibilisiert er durch das Isolieren der Objekte aus ihrem natürlichen Kontext den Betrachter für die formale Besonderheit und für die strukturelle Vielfalt der Dinge. Und für die verborgenen Bedeutungsschichten, die noch in den banalsten Objekten schlummern. Zum Beispiel einer bleigrauen Luftmatratze.
Ute Thon ist Kunstkritikerin und Textchefin des Magazins ART