DIE NACHT

White Trash Contemporary zeigt Jerry Berndts “Nite Works"-Serie – die zweite Einzelausstellung des preisgekrönten US-Fotografen in Hamburg


Zwielicht, Halbwelt, Nachtleben. Jerry Berndt hat sich in seiner Künstlerkarriere immer wieder für Zustände der Dunkelheit interessiert. In einzigartigen Fotoreportagen über Bostons Rotlichtmilieu (“Combat Zone”) oder Obdachlose (“Missing Persons”) dokumentiert er die Schattenseiten der amerikanischen Gesellschaft. Aber er nutzt die Nacht auch als konzeptuellen Rahmen für seine “Nite Works”, eine faszinierende Serie von Nachtaufnahmen in der menschenleeren Großstadt. Die kontrastreichen, brilliant komponierten Schwarzweißbilder von Häuserecken in Downtown, geschlossenen Ladenlokalen und beleuchteten Schaufenstern, aufgenommen mit langer Verschlusszeit nur mit vorhandenem Licht, stehen in der Tradition klassischer Fotokünstler wie Eugéne Atget und Brassai, aber auch amerikanischer Fotorealisten wie Walker Evans oder Lee Friedlander. Gleichzeitig belegen sie Jerry Berndts besondere Sensibilität für die sozialen und politischen Schwingungen der Situation. Egal ob er in Stripclubs mit Feingefühl und flinkem Finger am Auslöser auf Tuchfühlung mit Huren, Freiern und Zuhältern geht oder seine Mittelformatkamera in aller Ruhe in schummerigen Gassen auf eine triste Hausfassade richtet, seine Fotografien vermitteln auf magische Art die jeweilige Stimmung des Ortes. Dass Jerry Berndt als politischer Aktivist und Vietnam-Kriegsgegner in den sechziger Jahren vom FBI verfolgt, mit Berufsverbot belegt und damit zu seinen einsamen “Nachtschichten” quasi gezwungen wurde, verleiht den Bildern eine zusätzliche düstere Dimension.

“In seinen Nachtbildern sieht die Stadt aus wie eine leere Theaterbühne, bei der man nicht weiß, ob sie schon verlassen wurde von den echten Menschen oder noch auf sie wartet (...) Man sieht in diesen Bildern, dass das, was sie zeigen, kein unabwendbares Schicksal, sondern menschengemachtes Elend ist – und wenn es ein Kriterium gibt, das politische Fotografie unterscheidet vom melancholischen schwarzweißen Stimmungszeugs, das die Foto-Plakatshops füllt, dann ist es genau dieses”, schreibt Niklas Maak über Jerry Berndts Werk (FAZ, 15.2.2009). Mit hochgelobten Einzelausstellungen im Museum für Photographie Braunschweig und bei C/O Berlin wurden seine Fotoarbeiten erstmals einen größerem Publikum Deutschland vorgestellt. Maik Schlüter, der damalige Direktor des Braunschweiger Museums, war durch eine Ausstellung bei White Trash Contemporary auf den Künstler aufmerksam geworden. Über Jerry Berndts “Nite Works”-Serie schreibt er in dem Katalog: “Die Abwesenheit jeder Aktivität bietet die Möglichkeit, sich allein auf Licht, Atmosphäre und architektonische Struktur der jeweiligen Situation zu konzentrieren. Auch wenn diese Arbeit deutliche Bezüge aufweist zu Fotografien von Lee Friedlander, Stephen Shore, Ed Ruscha oder in einem weiteren Bogen zu Walker Evans bis hin zu Eugéne Atget, steht für Jerry Berndt hier weniger das konzeptuelle oder typologisierende Moment im Vordergrund als vielmehr ein psychologischer Ausnahmezustand und eine spezifische, symbolische Stimmung der Nacht.”

Die Ausstellung umfasst Fotografien aus Jerry Berndts “Nite Works”-Serie, darunter “historische” Aufnahmen aus Boston, Newport und Warschau aus den siebziger Jahren, aber auch aktuelle Nachtansichten von Paris, Berlin und New York.

Jerry Berndt wurde 1943 in Milwaukee, Wisconsin, geboren. Seit mehr als 30 Jahren hat er sich als Dokumentarfotograf mit Reportagen über den Genozid in Ruanda, den Bürgerkrieg in Haiti und Obdachlose in Amerika einen Namen gemacht. Seine Fotos erscheinen in bedeutenden Publikationen in den USA und Europa, darunter die New York Times, Newsweek und Paris Match. Seine Arbeit wurde mit renommierten Preisen geehrt, darunter eine Auszeichnung der US-Kulturstiftung National Endowment for the Arts und Stipendien der Universität von Kalifornien.

Im Februar 2007 präsentierte White Trash Contemporary Berndts erste Einzelausstellung in Deutschland. Darauf folgten viel beachtete Einzelausstellungen im Museum für Photographie Braunschweig (September 2008) und bei C/O Berlin (Dezember 2008 bis März 2009). Der Steidl-Verlag veröffentlichte 2008 unter dem Titel “Jerry Bernd: Insight” ein umfassendes Katalogbuch.

Jerry Berndts Fotos sind in den Sammlungen wichtiger Museen, darunter das Museum of Modern Art in New York, das Museum of Fine Arts in Boston und die Bibliotheque National in Paris, sowie in der Sammlung von Sir Elton John vertreten. Er lehrte Fotografie am Art Institute in Boston und an der Universität von Massachusetts. Heute lebt er mit seiner Frau und seinem Sohn in Paris.

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